Ich bin nicht mehr ganz so erschöpft wie zuhause, aber immer noch sehr müde. Sicher liegt das mit daran, dass ich jeden Morgen um halb sieben aufstehe, weil ich in der ersten Frühstücksgruppe um 7:00 Uhr bin. Noch hab ich keinen Lerchenrhythmus, ich gehe etwas zu spät ins Bett und möchte am liebsten alle freien Zeiten verschlafen.
Und ich kann schlafen hier! Es ist still, die Lüftung vom Schwimmbad (das vor mir in einem Anbau ist) wird übertönt vom wunderbaren Rauschen der Bäume am See, es gibt kein Radaukind über mir. Außerdem ist es nachts dunkel, kein künstliches Licht leuchtet draußen und wenn die Morgensonne um die Hausecke scheint, bin ich längst auf. Selbst tagsüber schlafe ich immer ganz schnell ein, weil es schön ruhig ist.
Aber ich will den freien Samstagnachmittag doch nutzen, um hier mal nachzutragen.
***
Der Donnerstag begann schon um halb sieben mit der Gewichtskontrolle. Ich schreibe es offen und stehe dazu: 110 kg sind es. Das ist das geringste Gewicht seit mehr als 10 Jahren; selbst nach der Zeit hier in 2018, als ich acht Kilo abgenommen hatte, waren es mehr. Das ist eine gute Ausgangslage, um mein Ziel - ein uHu (unter Hundert) zu werden - bald zu erreichen. Und wenn es keine zehn werden, dann hoffe ich doch, dass ich wenigestens als kleines Hu nach Hause komme und dort weiter arbeiten kann.
Der nächste Termin um 10:00 Uhr machte mir Sorgen vorher: die zweite medizinische Aufnahme, diesmal mit Untersuchung. Zum Glück auch wieder bei einer Frau, aber ich mag mich bzw. meinen Körper einfach so ungern angucken und anfassen lassen.
Die Ärztin war dann aber sehr sympathisch, jung, zurückhaltend und sehr respektvoll. Ich hatte ihr gleich gesagt, dass das hier grade schwierig ist und sie nahm Rücksicht darauf, fragte jedesmal, ob sie mich abtasten, abhören, anfassen darf und ich hätte immer die Möglichkeit gehabt, Nein zu sagen. Liebe Ärzt:innen, nehmt euch ein Beispiel! So funktioniert das dann auch mit ängstlichen Patient:innen!
Am Ende war mehr als eine Stunde vergangen, wir haben gelacht, viel geredet, ich konnte mich öffnen und hatte wirklich das Gefühl, dass sie mich gesehen hat. Verordnet hat sie ein EKG, Blutabnahme, regelmäßige Blutdruckkontrolle und einen Termin bei der Physiotherapeutin.
Eine halbe Stunde später war das nächste, für mich noch wichtigere Gespräch dran: das mit der Psychologin. Ich saß im Wartebereich und hatte Herzklopfen. Wie sieht sie aus, wie alt wird sie sein, wie wird sie überhaupt sein, werde ich sie mögen und überhaupt: wird sie meine Therapeutin oder macht sie nur das Erstgespräch?
Und dann kam sie aus ihrem Raum gestürmt, lächelte mich strahlend an, meinte “ich nehm Sie gleich mit” und verschwand im Stationszimmer, das gleich gegenüber von ihrem Sprechzimmer liegt. Ein paar Minuten später stürmte sie da wieder raus und wir gingen zu ihr rein. Ein Wirbelwind! :-))
Sie ist sehr sympathisch, jung (vielleicht Anfang dreißig), direkt - auf eine gute Art - und, wie sie selbst meint, manchmal etwas verpeilt. Wir sind dann den Bericht von 2018 nochmal durchgegangen, sie hat sich die Änderungen notiert und wir sprachen dann darüber, warum ich diesmal hier bin. Das ging ein, zwei Mal schon sehr tief, aber insgesamt war das Gespräch wirklich sehr gut. Auch hier fühle ich mich als Mensch und als Individuum gesehen und angenommen.
Jede:r Patient:in wird in eine Hauptgruppe und mehrere Nebengruppen eingeteilt. Bei mir sind es eine DBT-Gruppe und dazu bis jetzt PMR und Ergotherapie. Ich hörte inzwischen, dass es eine Imaginationsgruppe gibt und werde fragen, ob ich da mit rein kann.
Nachmittags wurden wir Neuankömmlinge der Woche noch vom Chef der Klinik höchstpersönlich begrüßt und dann war auch endlich Zeit fürs Abendessen.
Danach war ich eine Weile auf einer Bank am See und hab Fotos gemacht und frische Luft und Ruhe genossen. Anschließend war ich eigentlich auf dem Weg in mein Zimmer, aber dann saß da im Aufenthaltsraum eine kleine Runde mit netten Frauen, die fragten, ob ich “Phase 10” mitspielen will. Zwei Stunden später tat der Bauch vom Lachen weh und ich stellte wieder fest, wie gut solche Abende tun können. Da hält sich sogar die Hochsensibilität eine Weile zurück, solange die Anzahl der Menschen überschaubar ist.
Wie ich jetzt grade sehe, hab ich die Hausführung dadurch verpasst, aber ich kenn das ja alles schon.
Am Freitag gab es wieder Frühstück um sieben Uhr, heute am “Tisch der Stille”. Das ist eine großartige Einrichtung: in zwei Bereichen des dreiteiligen Speiseraumes gibt es je zwei Tische, an denen während der Mahlzeiten geschwiegen wird. Sie sind für alle da, die es brauchen. Niemand muss reden und niemand muss erklären, warum nicht. Als Morgenmuffel ist das ausgesprochen (ha! :-D) angenehm.
Danach ging es zur Patientenbefragung; da sitzt eins am Laptop und beantwortet Fragen zur aktuellen Verfassung. Am Ende des Aufenthalts werden die gleichen Fragen nochmal gestellt, so dass die Klinik eine Auswertung erstellen kann, die dann an die behandelnden Ärzt:innen geschickt werden.
Nach einem Kurzbesuch im Pflegezimmer wegen meiner blöden Stelle auf der Stirn, die einfach nicht heilen will, hatte ich das letzte der Aufnahmegespräche, diesmal mit der Physiotherapeutin. Auch hier wieder Fragen über Fragen (was und wo tut es weh, wie tut es weh, hatten Sie Unfälle und/oder Operationen, welche Einschränkungen sind da …) und am Ende die Verordnung für die “Muckibude” (2x pro Woche mit festem Termin, freiwillig jederzeit mehr), einmal pro Woche Aquagymnastik und zusätzlich meinen heiß geliebten Medi-Stream.
Damit waren alle Aufnahmegespräche erledigt. Nächste Woche geht es richtig los mit den diversen Gruppen und der Einzeltherapie; der genaue Plan wird wohl am Montagmorgen kommen. Ich bin gespannt und freu mich auf die Arbeit - ja, sogar auf den Sport. Ich hätte gerne so einen Schrittzähler: ich gehe hier an einem Tag mehr als in einer Woche bei mir zuhause. Und wann immer ich mich in der Lage fühle, nehme ich die Treppe und nicht den Aufzug. Meinen Füßen und Knien geht es gut dabei.
Am Nachmittag hab ich aber doch das Fahrrad genommen und bin kurz in die Stadt gefahren, um ein paar Sachen einzukaufen und auf dem Rückweg eine neue Lieblingsstelle am See zu finden.
Heute ist Samstag und ich musste vorhin wirklich nachzählen: seit vier Tagen bin ich schon hier! Ich fühle mich wohl, die Atmosphäre ist gut, die Mitpatientinnen (vor allem natürlich aus unserer Ankommensgruppe) nett bis sehr nett. Dass sie den Lieblingsmenschen von damals nicht das Wasser reichen können, empfinde ich als positiv: ich hatte sowieso nicht vor, großartige Freundschaften zu schließen oder mich mit menschlichen Problemen zu befassen, die nicht meine sind. Diesmal bin ich mit einem ganz anderen Thema hier und stehe für mich an erster Stelle. Die Zeit ist kurz genug, die wir hier zum arbeiten haben.
Am Wochenende ist hier nichts los, man trifft sich zu den Mahlzeiten, manche unternehmen was zusammen oder liegen wie heute gemütlich auf der Liegewiese in der Sonne. Unsere Runde wird wahrscheinlich heute Abend weiter spielen und morgen fahr ich eventuell mal ein wenig mit dem Fahrrad in die Gegend, falls es nicht regnet.
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