Malente
Keine Nachricht bisher, wann es einen freien Platz für mich gibt. Ich habe alles erledigt, was vorher noch dringend war (siehe unter “Gesundheit” weiter unten), habe nötige Sachen eingekauft, das neue Fahrrad ist so gut wie fertig, nur der Zweitschlüssel für den Nachbarn fehlt noch. Im Prinzip bin ich also abfahrbereit, aber ich weiß halt nicht, wann. Ich sitze und warte und versuche nicht zu viel daran zu denken, aber ich will jetzt endlich los. Ich will das hinter mir haben.
Und in der Zwischenzeit schlage ich mich mit Igor rum.
Depression
Theoretisch war mir ja immer klar, dass die Depression chronisch ist und jederzeit wieder kommen kann. Nach zwei Jahren mit nur seltenen und relativ harmlosen Episoden war ich aber nicht drauf gefasst, dass es mich ausgerechnet nach der guten Nachricht aus Malente erwischt und dass es noch einmal so eine schlimme Phase sein würde.
Mit der Erleichterung und der Freude fiel die Anspannung von eineinhalb Jahren ab und ich rutschte ganz tief ins schwarze Loch. Auf einmal waren alle “Losigkeiten” wieder da, allen voran die Antriebs- und die Hoffnungslosigkeit. Dazu wie immer die Frage: warum mach ich das alles? Kann ich es wirklich schaffen, meine Essstörung in den Griff zu bekommen, kann es gesundheitlich überhaupt nochmal aufwärts gehen und mir etwas mehr Lebensqualität geben? Was, wenn nicht? Ich fand keine Antworten, es gab kein Licht.
In den letzten paar Wochen hab ich mich nach und nach aus dem Loch gequält, aber so wirklich hell ist es noch nicht. Eigentlich möchte ich nur irgendwo still sitzen oder schlafen. Nichts müssen, nichts wollen, nichts denken. Ich halte aus, wie immer - “fake it until you make it” -, aber die Kraft dazu schwindet.
Trauerzeit
Und dann kam mitten in der Depression, ausgelöst durch einen Traum von M., aus dem ich weinend aufwachte, auch noch eine Woche voller Trauer und Tränen. Ich träume immer noch immer wieder von ihm; meistens kann ich das recht schnell weg schieben, aber dieses Mal hat es mich komplett überrollt. Dieses Mal war es zu nah am sowieso gegenwärtigen Schmerz über mein Allein-Sein.
Diese Beziehung war einfach die mit großem Abstand wichtigste für mich. Nie vorher oder nachher *) habe ich jemanden so sehr, so tief, so mit all meinem Sein geliebt. Er war DER Mann für mich, der, mit dem ich alt werden wollte, dem ich vertrauen wollte, dem ich alles geben wollte. Als er ging, war es, als würde mein Herz in Stücke reißen. Es ist nicht gebrochen, sondern rundum und bis in tiefe Schichten aufgerissen. Die Narben, die sich im Laufe der Zeit gebildet haben, sind nicht glatt, sondern rau und rissig und wenn dann ein Trigger kommt, ist es, als würde ich Schorf von einer Wunde ziehen und es fängt sofort an zu bluten.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich wieder in meinem Jetzt war, bis ich wieder annehmen konnte, was ist und wie anders mein Leben verlaufen ist als damals erträumt. Ich wußte, dass verdrängen diesmal nicht hilft, also habe ich ausgehalten, die Trauer und die Tränen zugelassen, mich bewußt erinnert und gewartet, bis genug Haut nachgewachsen war. Mehr konnte ich nicht tun. Ich hoffe nur, dass die neue Haut lange hält.
*) Einen einzigen anderen Menschen gibt es, den ich mit der gleichen Intensität, Tiefe und Bedingungslosigkeit liebe, wie ich M. liebte, und das ist die Tochter. Es ist eine andere Art der Liebe, aber es ist eine gute und gegenseitige Liebe und ich bin zutiefst dankbar dafür.
Gesundheit
Nachdem das Kribbeln in den Füßen nicht mehr nur unangenehm bis nervig war, sondern manchmal auch sehr schmerzhaft (wie kurze Stromstöße), hab ich mir im Februar endlich einen Termin bei einer Neurologin geholt. Sie hat bestätigt, was ich von Tante Google schon ahnte: es ist Polyneuropathie als Folge der Diabetes. Noch nicht sehr schlimm, aber das was jetzt da ist, wird auch nicht wieder weg gehen. Etwas aufhalten und vor allem besser aushalten lässt es sich mit einem Medikament, das gleichzeitig auch als Antidepressivum eingesetzt wird. Das wollte ich ja eigentlich nie wieder, aber nachdem es gegen meine zu der Zeit akute Depression sowieso nicht gewirkt hat, war es dann egal. Das Kribbeln ist jedenfalls aushaltbar.
Im März war ich bei der Augenärztin, weil ich seit einiger Zeit vor allem auf dem linken Auge wieder schlechter sehen konnte. Damit hatte ich dann eine Laserbehandlung gewonnen, denn es hatte sich ein sog. Nachstar gebildet. Diese Behandlung fand 5 Wochen später statt, war bis auf die Panikattacken vorher nicht wirklich schlimm und wirkte sofort. Auf dem rechten Auge ist auch was zu sehen, aber das hat Zeit auf jeden Fall bis nach Malente.
Zusätzlich zum Nachstar hatte ich im rechten Auge eine kleine Blutung und durfte zur Belohnung zweimal 24 Stunden mit einem Blutdruckmessgerät verbringen. Das mit der Belohnung ist natürlich ironisch gemeint, weil das überhaupt keinen Spaß macht, wenn alle Viertelstunde (bzw. alle halbe Stunde in der Nacht) der Arm abgequetscht wird. Aber gut, jetzt weiß ich, dass mein Blutdruck bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten in schwindelnde Höhe schießt und hab außerdem noch ein Medikament mehr zum Frühstück.
So richtig gut war im April dann aber der vierteljährliche Besuch in der Diabetespraxis, denn da war deutlich zu sehen, dass das Insulin, das ich seit letztem Oktober täglich spritze, wirklich wirkt. Der Blutzucker-Langzeitwert ist von 10,7 auf 7,3 runter gegangen - und ich hab sogar 4 kg abgenommen! Davon ist eins zwar wieder da, aber das finde ich grade nicht so schlimm. Dafür warte ich ja auf Malente.
Therapie und Hilfe-Dings
Im März hatte ich mein (vorerst) letztes Therapiegespräch. Ich habe beschlossen, dass es gut ist wie es ist. Seit April 2018 war ich bei ihr, drei Jahre lang wöchentlich, danach einmal im Monat. In den letzten Gesprächen hab ich eigentlich hauptsächlich erzählt, was in der Zwischenzeit so los war, aber wirklich therapeutisch, z.B. an der Essstörung, haben wir nicht mehr gearbeitet. Wie sich zeigt, hab ich meine Depression ja auch im Griff und kann sogar mit solchen schweren Episoden umgehen. Ich hab so viel gelernt in den Sitzungen und mir genügend Skills erarbeitet, dass ich alleine gehen kann. Das fühlt sich manchmal noch komisch an, aber es passt. Ich werde mich aber auf jeden Fall nach Malente nochmal bei ihr melden und je nach Lage wird es eine Abschiedsstunde oder sie beantragt eine Kurztherapie von 3 Monaten, um eventuell übrig gebliebenes aus der Klinik fertig zu bearbeiten.
Dass ich die Therapie los lassen kann, liegt natürlich auch daran, dass das Hilfe-Dings ja weiterhin da ist. Die wöchentlichen Gespräche mit Frau R., die Mittwochsgruppe, die Ausflüge mit anderen Klient:innen … das tut mir gut. Das ist mein soziales Netz in “real”, das mich trägt.
An dieser Stelle mal wieder ein Danke an die Menschen, die an meiner Seite stehen: ohne euch würde und könnte ich mich nicht immer wieder nach oben kämpfen. (Ihr wißt, wen ich meine.)
Warten
Die Zeit, bis endlich eine Nachricht aus Malente kommt, versuche ich irgendwie vernünftig zu füllen (und entgegen des Bedürfnisses nicht nur zu verschlafen). So habe ich angefangen, eine Zeitleiste meines Lebens zu erstellen, weil ich inzwischen Jahreszahlen vergesse oder durcheinander werfe. Das Gerüst steht, das Layout auch, jetzt muss ich es füllen. Dazu muss ich aber in die Vergangenheit tauchen und anhand von Fotos und Tagebüchern Ereignisse mit Daten zusammen bringen und das ist nicht grade leicht. Da kommt so vieles wieder hoch, so viele Erinnerungen, die schwierig sind. Der Gedanke war, anhand der Liste vielleicht erkennen zu können, wann die Essstörung los ging und womöglich sogar Ursachen zu finden, aber da hängt eben noch so viel mehr dran. Noch hab ich kein System gefunden, alles zu sortieren in relevant oder “kann für immer weg”. Und manchesmal muss ich mich zwingen, was anderes zu tun, weil es zu tief nach unten geht. Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen kann.
Was ich weiß: ich geb nicht auf, trotz allem.
***
P.S. Und weil das zur Chronik gehört, erwähne ich hier nochmal extra, dass mein Blog seit Februar in Uschis Blogsammlung “blogs50plus” eingetragen ist. Das ist eine Sammlung “zum Suchen, Finden und Entdecken” und hat inzwischen fast 300 Blogs gelistet, die von Menschen ab 50 betrieben werden. Guckt doch mal rein, bestimmt finden sich interessante Themen!
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