Ich schlafe lange, es treibt mich nicht aus dem Bett in den Tag. Ich stehe dennoch irgendwann auf, bin dann wach, aber ohne Energie. Einmal kurz den Flur gesaugt und ich bin aus der Puste. Eine Maschine Wäsche gewaschen und aufgehängt und wieder zurück aufs Sofa. Der Wocheneinkauf ein Marathon, den ich möglichst lange rausschiebe.
Keine Kraft - keine Bewegung - keine Kraft. Ein Teufelskreis, der immer in die falsche Richtung geht.
Der Mensch braucht eine Bestimmung, eine Aufgabe, eine Daseins-Berechtigung, irgendeinen Grund, am Leben zu sein. Lange Zeit bestand meine Aufgabe darin, gesund zu werden, gut zu mir zu sein, neue Lebensmuster zu weben. Inzwischen geht es mir wesentlich besser als vor 10 Jahren, zu Beginn der Depression.
Dennoch fehlt eine Perspektive. Wann bin ich fertig mit der Aufgabe? Gibt es dann eine neue und welche und woher nehme ich die Energie dafür?
Als ich noch im Berufsleben stand, war es vergleichsweise einfach: ich bin aufgestanden und zur Arbeit gegangen, weil es das war, was ich tat und wofür ich Geld bekam. Abgesehen von den Chefs war das meistens gut und hat mich ausgefüllt, mir Spaß gemacht. Über den Rest drumherum hab ich mir nicht viele Gedanken gemacht (zumindest, was mich anging). Ein, zwei Hobbies, viel Musik, ab und zu eine Reise, die Familie. Es war nicht prickelnd und mit Sicherheit nicht, was ich mir immer erträumt hatte, aber irgendwie okay für lange Zeit.
Heute ist klar, dass ich keinen festen, bezahlten Job mehr ausüben werde. Dafür bin ich zu alt und zu krank, ich habe das akzeptiert. Aber mir fehlt die Selbstverständlichkeit, mit der ich jeden Morgen aufgestanden bin, weil ich etwas zu erledigen hatte.
Es ist nett, nichts mehr zu müssen, niemandens Erwartungen zu erfüllen, meistens nur noch zu tun, was ich will. Aber es ist verdammt anstrengend, jeden Tag aus sich selbst heraus einen Grund zum weitergehen zu finden, wenn die Energie nicht da ist.
Manchmal überlege ich, was ich ehrenamtlich gerne machen würde. Katzen im Tierheim füttern und lieben. Bei der Essensausgabe für Obdachlose, Arme, Geflüchtete helfen. Die Patenschaft für eine junge depressive Frau übernehmen. Mich zur Genesungsbegleiterin ausbilden lassen. Socken für Frühchen stricken.
Es gäbe so viele Möglichkeiten, so viele Stellen, an denen ich mich vermutlich wohl fühlen würde und meine Fähigkeiten von Nutzen sein könnten. Und dann stelle ich wieder fest, dass meine Energie grade mal dazu reicht, meinen Flur zu saugen. Dass ich von mehr als zwei Terminen pro Woche überfordert bin. Dass mich ein wunderschönes Treffen mit meinem Herzenskind mal eben für ein paar Tage aus den Socken haut. Wie könnte ich denn so Verpflichtungen eingehen?
Wo ist meine Aufgabe, meine Bestimmung, meine Daseinsberechtigung? *)
*) Nachtrag am 18.02.2021
Erst im Nachhinein, durch eine Bemerkung von D., wurde mir klar, dass ich das Wort “Daseinsberechtigung” aus alter Gewohnheit benutzt habe, obwohl es inzwischen nicht mehr zutrifft. Denn ich weiß ja seit einiger Zeit, dass niemand mir dieses Recht geben und schon gar nicht nehmen kann, genauso wie niemand das Recht hat, mich aufgrund von irgendwas (Leistung, Aussehen, Fähigkeiten, Nettigkeit …) zu beurteilen oder zu bewerten. Ich weiß, dass ich genug bin - für mich. Und niemand anderes zählt in diesem Punkt.
Dass ich mir etwas wünsche, wofür sich das Aufstehen und Weitermachen lohnt, bleibt unabhängig davon bestehen.