Ja, das Ding mit dem Lärm wird hier noch öfter Thema sein. Irgendwo muss ich hin mit der Wut und der Verzweiflung. Aber das ist ja zum Glück mein Blog und ich schreibe für mich, darum: wer es nicht lesen will, möge es einfach nicht lesen.
Nachdem ich am Freitag ja schon um kurz vor neun trotz weniger Stunden Schlaf hellwach war, mochte ich gestern so überhaupt nicht aufstehen. Keine Lust, müde, quakig. Als einziger Punkt stand auf der “Du hast da was zu tun” - Liste, die Bude mal wieder durch zu saugen und das hatte ja nun wirklich Zeit bis zum Mittag Nachmittag frühen Abend. Aber irgendwann machen sich die olle Matratze und der Rücken bemerkbar und dann steh ich eben doch auf, weil es wenigstens Kaffee gibt und Brötchen mit sauleckerer Marmelade aus Johannisbeeren, die ich am Mittwoch noch schnell gekocht hatte.
Ich saß also mittags eine Weile gemütlich beim Frühstück, schön mit offener Balkontür (solange die Gastro noch nicht offen hat, geht es ja halbwegs), da kam wie aus dem Nichts der Knüppel. Und zwar mitten rein ins Gesicht und auf die Ohren, in Form eines Monsterschlagzeugs.
Auf dem großen Platz rechts neben uns, ca. 120 m entfernt, war irgendein Fest. Mit Musik. Und wie immer hatten sie die schlechtesten Coverbands von Hamburg engagiert. Es ist mir ein Rätsel, wie sie das immer machen und wo sie immer wieder Nachschub finden, aber sie schaffen es jedes Jahr aufs Neue. Ich bin ausgebildete Musikerin, ich kann das beurteilen.
Ein häufiges Merkmal von schlechten Bands, deren Mitglieder ganz tief in sich ahnen, dass sie schlecht sind, ist: sie sind laut. Extrem laut. Sie versuchen damit zu übertönen, dass sie schlecht sind. Aber das nützt nichts. Schlecht bleibt schlecht und eine miese Stimme wird nicht besser, wenn sie mit 10000 Watt verstärkt wird, auch wenn das Schlagzeug versucht, noch lauter zu sein und der Bass unter allem einfach nur dröhnt.
Wie so eine richtige Spießerin hab ich mir gestern eine App aufs Handy geholt, mit der sich die Lautstärke messen lässt, damit ich mal bestätigt bekomme, dass ich nicht spinne. 80 dB waren es im Schnitt, direkt am Platz dann wohl ca. 100 dB. Das ist nicht mehr laut, das ist Lärm und damit Lärmbelästigung. Aber laut Gesetz dürfen sie das, wenn so ein Fest nur selten im Jahr statt findet.
Als ehemalige Musiklehrerin weiß ich natürlich, dass Musiker:innen und Bands üben müssen, damit sie gut werden. Ich befürworte auch ausdrücklich, dass Menschen Musik machen, ein Instrument lernen, sich kreativ betätigen: es ist wirklich gut für die Seele. Und mir ist klar, dass es viel Überwindung kostet, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, wenn man nicht perfekt ist. Aber: laut zu sein, hilft nicht. Laut macht Lärm und alles kaputt.
Und kaputt war dann ich gestern. Das kam so unvorbereitet, dass ich keine Zeit mehr hatte, irgendwelche Schutzschilder aufzubauen. Mir blieb nur, die Fenster und Tür vorne zuzumachen und mir Kopfhörer aufzusetzen, weil es auch durch die hinteren Fenster eindrang.
Um 14 Uhr fingen sie an, jede Band hatte ca. 40 Minuten, dann wurde ab- und wieder aufgebaut, gestimmt, Mikro getestet, nochmal gestimmt, das Schlagzeug eingegroovt und wieder los gelegt. Einmal war ein Singer/Songwriter dran, der war zwar genauso schlecht, aber fast noch erträglich, weil er nur eine Gitarre dabei hatte. Bis gegen 20:30 Uhr ging das ganze.
Besonders “praktisch” war ja, dass um 18 Uhr eine weitere Musikveranstaltung in der Nähe (500 m Luftlinie) statt fand. Ein Freilichtkonzert, organisiert von der Elbphilharmonie: »Himmel über Hamburg - Alphörner, Pauken und Trompeten auf den Dächern der Lenzsiedlung«. Super Idee und weit über die Lenzsiedlung hinaus zu hören, so dass die Anwohner:innen sich nicht entscheiden mussten, ob sie Rock oder Klassik lieber mögen - sie bekamen einfach beides. Gleichzeitig. Gut gemacht, Leute, wirklich gut.
Insgesamt gesehen - oder besser: gehört - war das gestern also so ein richtiger Scheißtag.
Ich bin Musikerin, ich hab wirklich verdammt viel Musik gehört und gemacht in meinem Leben. Aufgewachsen in einem reinen Klassik-Haushalt, beide Eltern Musik-machende und -lehrende. Musik war Alltag bei uns, es gehörte dazu wie reden und lesen. Es gibt ein Foto, auf dem ich, ca. 4 Monate alt, während eines Kirchenkonzertes mit Chor und großem Orchester direkt neben den Blechbläsern auf dem Boden liege. Tief schlafend. Ich habe Blockflöte gespielt, bevor ich lesen und schreiben konnte. Als Jugendliche in den 70ern hab ich meine eigene Musik gefunden, die ich neben der Klassik geliebt habe und bis heute liebe und höre. Meine Tochter ist mit dieser Musikmischung groß geworden und hat selbst wieder eigene Richtungen gefunden, die nicht immer meinen Geschmack trafen, die ich aber für sie mit gehört habe und gute Sachen drin fand. Manche ihrer geliebten Bands und Sänger:innen stehen immer noch auf meiner aktuellen Playlist. Ich mache nicht mehr aktiv Musik, aber ich empfinde und bezeichne mich immer noch als Musikerin.
Was ich damit sagen will: mein Leben ist voll mit Musik. Musik rettet mich aus schlimmsten Depressionen und hilft mir, etwas zu fühlen, wenn ich innerlich fast tot bin. Musik ist eines der wenigen Dinge, die mich glücklich machen.
Aber es gibt etwas, das sich “Musik” nennt (weil es aus wenigstens einem Ton besteht und irgendeinem Rhythmus, auch wenn es immer der gleiche monotone ist und weil irgendjemand ein Mikro in der Hand hat und da irgendwas rein brüllt), bei dem nehme ich mir aufgrund meiner Erfahrung heraus zu sagen: das ist keine Musik. Das hat mit Musik so viel zu tun wie ein matschiger Burger von McDoof mit einem 5-Sterne-Essen im Edelrestaurant. Das ist nur noch Lärm — und Lärm macht krank.
Genauso unerträglich und deshalb krank machend ist für mich ungebetene, aufgezwungene Musik, die ich ertragen muss, der ich ausgeliefert bin, weil ich nicht weg kann. Das tut in meinem ganzen Ich weh, im Körper genauso wie in der Seele. Das ist Schmerz pur. Es war schon immer so, aber seit die Hochsensibilität dazu kam, erst recht. Ich spüre es als Schmerz auf der Haut, als Hammer auf und im Kopf, als brennend heißen Klumpen im Zwerchfell und der Lunge.
Und so empfinde ich eben auch bestimmte Geräusche: Martinshorn, aufheulende Motoren, quietschende Bremsen, Bohrmaschinen, Sägen, Laubbläser, tropfende Wasserhähne, schrilles Kindergeschrei, eine Ansammlung redender Menschen. Je länger es andauert und je lauter es ist, desto größer ist der Schmerz und desto weniger kann ich mich schützen davor. Es ist, als ob jemand meine Haut mit einer Raspel bearbeitet und Schicht um Schicht mein Inneres bloß legt. Ich gewöhne mich nicht daran - es wird immer schlimmer.
Es ist jetzt halb fünf am Nachmittag, meine Balkontür steht immer noch offen, denn es ist schönster Sommer im Norden: mit 25° im Halbschatten und leichtem Seewind perfekt, um draußen zu sein. Aber ich höre, wie die Straße erwacht. Wie immer mehr Menschen am Haus vorbei gehen oder für ihre Blechkisten einen Parkplatz suchen, wie die Außenplätze der Kneipen sich füllen und alle reden und reden und reden. Wie Nebel, der durch die Gassen wabert, formt sich alles Reden zu einem einzigen Schwall aus Geräusch zusammen und steigt auf in die Luft und bleibt da irgendwo hängen als Dach aus Lärm. Und ich weiß, dass ich gleich Türen und Fenster verrammeln muss, damit es nicht so weh tut, denn im Gegensatz zu Nebel fühlt sich dieser Schwall an, als sei er mit Nadeln gespickt.
Der schönste Tag der Woche ist für mich inzwischen der Montag: weil da zwei der Restaurants Ruhetag haben. Weil die Menschen müde sind vom Wochenende und nur selten weg gehen. Weil der Alltag erst langsam wieder in Gang kommt.
Nie hätte ich mir vorstellen können, das mal zu sagen: I really like mondays.
Bis morgen also.
Ergänzend noch ein paar Fakten.
Lärm wirkt sich als Stressfaktor auf das vegetative Nervensystem aus. Der Blutdruck kann steigen, es kann zu Kopfschmerzen-und Konzentrationsstörungen kommen, zu Muskelverspannungen oder zu Schlafstörungen. Dadurch kann sich der Körper nicht regenerieren und ist Krankheiten gegenüber eher ausgeliefert. Bei Frauen kann sich Schlaflosigkeit sogar auf das Brustkrebsrisiko auswirken.
Gespräch mit Matthias Hintzsche, Referent im Fachgebiet Lärmminderung bei Anlagen und Produkten und Lärmwirkungen, erschienen am 25.04.2018 in der Hannoverschen Allgemeinen
Zu viel Schall – in Stärke oder Dauer – kann nachhaltige gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Schäden hervorrufen. Diese betreffen zum einen das Gehör, das durch kurzzeitige hohe Schallspitzen oder Dauerschall geschädigt werden kann (aurale Wirkungen). Dazu gehören Beeinträchtigungen des Hörvermögens bis hin zur Schwerhörigkeit, sowie zeitlich begrenzte oder dauerhafte Ohrgeräusche (Tinnitus). Hohe Schallpegel treten nicht nur im Arbeitsleben auf, sondern auch in der Freizeit, zum Beispiel durch laute Musik. Ferner wirkt Schall (oder Lärm) auf den gesamten Organismus, indem er körperliche Stressreaktionen auslöst (extra-aurale Wirkungen). Dies kann auch schon bei niedrigeren, nicht-gehörschädigenden Schallpegeln geschehen, wie sie in der Umwelt vorkommen (zum Beispiel Verkehrslärm).
https://www.umweltbundesamt.de/themen/verkehr-laerm/laermwirkungen#gehorschaden-und-stressreaktionen
Lärm als psychosozialer Stressfaktor beeinträchtigt somit nicht nur das subjektive Wohlempfinden und die Lebensqualität, indem er stört und belästigt. Lärm beeinträchtigt auch die Gesundheit im engeren Sinn. Er aktiviert das autonome Nervensystem und das hormonelle System. Die Folge: Veränderungen bei Blutdruck, Herzfrequenz und anderen Kreislauffaktoren. Der Körper schüttet vermehrt Stresshormone aus, die ihrerseits in Stoffwechselvorgänge des Körpers eingreifen. Die Kreislauf- und Stoffwechselregulierung wird weitgehend unbewusst über das autonome Nervensystem vermittelt. Die autonomen Reaktionen treten deshalb auch im Schlaf und bei Personen auf, die meinen, sich an Lärm gewöhnt zu haben.
Zu den möglichen Langzeitfolgen chronischer Lärmbelastung gehören neben den Gehörschäden auch Änderungen bei biologischen Risikofaktoren (zum Beispiel Blutfette, Blutzucker, Gerinnungsfaktoren) und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie arteriosklerotische Veränderungen („Arterienverkalkung”), Bluthochdruck und bestimmte Herzkrankheiten einschließlich Herzinfarkt.
Ach je, meine Liebe. Ich kann mir vorstellen, wie bedrückend das ist. Gut, dass du so differenziert darüber schreiben kannst. Ich fühle mit. Sehr.
Danke, meine Liebe. Und dito, das weißt du ja. <345