Ich bin dieser Tage nicht mehr mütend, sondern wüde: mehr müde als wütend. Ich fange an, einen Artikel im “Spektrum” zu lesen (wie es nach der Pandemie weiter geht) und höre mittendrin auf, weil da nur Wenns und Danns und Abers und Vielleichts stehen. Ich überfliege die neueste Ausgabe der Verordnungen und verirre mich in 2G, 2G+, 3G und 4malmachtwasihrwolltwirwissenesdochauchnicht. Ich bin jedes Mal wütend, wenn in den diversen Medien wieder irgendwelche Schwurbler und Pseudoexperten zu Wort kommen und ungehindert ihre unqualifizierte Meinung in die Welt posaunen und damit alle seriösen Leute in den Hintergrund drängen, aber meine Wut hält nicht mehr lange an, weil ich gleichzeitig endlos müde bin. Wir gehen ins 3. Jahr Pandemie und es ändert sich nichts.
Ich mag nicht mehr. Meine Kraft ist erschöpft. Auch wenn ich nicht arbeite und weder Kinder noch Eltern versorgen muss und es mir darum vergleichsweise gut geht, strengt mich das alles, was die Pandemie mit sich brachte und bringt, inzwischen sehr an. Es ist vor allem die Unsicherheit, die mich draußen ständig begleitet. Wer von denen in der Schlange an der Supermarktkasse oder im Bus ist womöglich bereits krank, ohne es zu wissen? War im Aufzug grade jemand ohne Maske? Wo kann ich bedenkenlos hin gehen? Sollte ich nicht lieber sogar im Treppenhaus schon die Maske aufsetzen?
Und es ist die dadurch entstandene Isolation, die mir zu schaffen macht. Eigentlich wäre ich psychisch wieder soweit, neue Menschen kennen zu lernen. Ich könnte eine neue Gruppe beim HilfeDings ausprobieren oder Kontakte knüpfen über nebenan.de, wo ich mich vor 5 Jahren mal genau dafür angemeldet habe. Aber Begegnungen mit Fremden in dieser Zeit? Besser nicht. Lieber alleine zuhause bleiben. Aber wie lange noch?
Und es ist natürlich die maßlose Enttäuschung, dass unsere Regierung nicht in der Lage ist, sich auf einen vernünftigen Konses zu einigen, für das Wohl ALLER Bürger*innen zu sorgen und die eigenen, persönlichen Belange wenigstens einmal außen vor zu lassen. Und auch darüber, dass sie sich von verhältnismäßig wenigen Idiot*innen am Nasenring durch die Pandemie führen lassen, anstatt klare Ansagen zu machen und damit für Ordnung zu sorgen - so wie es einer Regierung nunmal obliegt in solchen Zeiten. Klar ist das bei uns eine Demokratie, in der im Prinzip jede*r was sagen darf, aber es ist keine Anarchie. Das scheinen einige zu vergessen, auch in den “oberen Reihen”.
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Auf Twitter habe ich alle, denen ich folge, auf Listen verteilt, damit ich je nach Stimmung und Kraft entscheiden kann, wen und was ich lese. Da gibt es eine Liste mit Herzmenschen, die ich eigentlich immer lese, weil es friedliche, harmonische, freundliche Menschen sind. Aber auch da wird der Ton in den letzten Wochen sehr viel rauher, drastischer, wütender. Und obwohl ich das verstehe und bei mir selbst ja auch merke, fliege ich an vielen Tagen auch dort nur noch über die Tweets, weil mir die Kraft dafür fehlt.
Immer öfter kommt bei mir (und anderen) die Frage auf, was die Pandemie mit uns als Menschen, als Gesellschaft macht und wie sehr wir uns am Ende verändert haben werden. Ich glaube nicht mehr daran, dass es ein Zurück gibt, aber ich kann mir im Moment noch nicht vorstellen, wie das neue Danach aussehen wird.
Zwei Tweets dazu.
Wie kriegen wir das wieder hin, freundlich und respektvoll miteinander umzugehen, nicht nur im kleinen privaten Bereich? Wie kommen wir auf ein “normales” Maß zurück, wenn es um Aufregung und Empörung geht und auch um die Ich-Bezogenheit, das “Ich hab aber Recht und wenn du das anders siehst, bist du für mich gestorben”?
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Max Buddenbohm über die derzeitige Stimmung.
Wir haben eine Phase der Pandemie erreicht, in der fast alle Menschen in dieser Gesellschaft durch etwas verärgert oder enttäuscht, vielleicht sogar verbittert sind. Weil sie einzelne oder viele Maßnahmen des Staates unsinnig oder falsch finden, weil sie das Verhalten ihrer Mitmenschen abwegig oder irrsinnig finden, weil sie irgendwelche Regeln, Einschränkungen, Verbote oder Förderungen gerne etwas anders hätten oder nicht mehr nachvollziehen können oder wollen, was warum entschieden wurde. Es scheint keine zufriedenen Menschen mehr zu geben, in keinem Lager, in keiner Gruppierung. Dem mittlerweile schier undurchdringlichen Dickicht der vielfältigen Regeln und Vorgaben steht ein ebenso wirres Dickicht an Meinungen und Vermutungen gegenüber. Es ist eine verfahrene Situation. Im Bekanntenkreis regen sich alle über irgendetwas auf, im Kolleginnenkreis auch, in den sozialen Medien sowieso, in den Nachrichten, in den Talkshows und im Radio - überall wird geschimpft, gezweifelt, gestritten, und wem will man es verwehren, es gibt doch Gründe genug und auch Gründe für alle.
Max Buddenbohm: So gehört das, so muss das sein
Elisabeth Rank auf Instagram:
Everyone I know is tired. Today I could breathe for a second. Is that one of these adult things that just when the sun hits you leave everything as it is and go out for a walk? Or is it a pandemic thing? And you want to walk fast because sunlight and joyful sweat and light smiles are rare these days, and it feels good to walk through crisp air with pace; and at the same time you want it to last long, you want it to last forever and breathe and smell and just stand there with your eyes closed in that damn winter sun. I saw someone crying in the park, he crossed me, big guy, a little younger than me. He looked so freaking tired that I felt like hugging him (I didn’t). Everyone I know is tired. / Berlin, January 2022.
Elisabeth Rank auf Instagram
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Ich bin so müde.
Auch deshalb, weil ich inzwischen seit 10 Jahren (bzw. eigentlich sogar schon seit 18 Jahren oder noch mehr) gegen und mit der Depression kämpfe, worüber ich in der letzten Zeit auch viel nachdenke, aber das wird ein eigener Beitrag an einem anderen Tag.