21-01-2022 “Wüde”: mehr müde als wütend

Ich bin die­ser Tage nicht mehr mütend, son­dern wüde: mehr müde als wütend. Ich fange an, einen Arti­kel im “Spek­trum” zu lesen (wie es nach der Pan­de­mie wei­ter geht) und höre mit­ten­drin auf, weil da nur Wenns und Danns und Abers und Viel­leichts ste­hen. Ich über­fliege die neu­este Aus­gabe der Ver­ord­nun­gen und ver­irre mich in 2G, 2G+, 3G und 4malmachtwasihrwolltwirwissenesdochauchnicht. Ich bin jedes Mal wütend, wenn in den diver­sen Medien wie­der irgend­wel­che Schwurb­ler und Pseu­do­ex­per­ten zu Wort kom­men und unge­hin­dert ihre unqua­li­fi­zierte Mei­nung in die Welt posau­nen und damit alle seriö­sen Leute in den Hin­ter­grund drän­gen, aber meine Wut hält nicht mehr lange an, weil ich gleich­zei­tig end­los müde bin. Wir gehen ins 3. Jahr Pan­de­mie und es ändert sich nichts. 

Ich mag nicht mehr. Meine Kraft ist erschöpft. Auch wenn ich nicht arbeite und weder Kin­der noch Eltern ver­sor­gen muss und es mir darum ver­gleichs­weise gut geht, strengt mich das alles, was die Pan­de­mie mit sich brachte und bringt, inzwi­schen sehr an. Es ist vor allem die Unsi­cher­heit, die mich drau­ßen stän­dig beglei­tet. Wer von denen in der Schlange an der Super­markt­kasse oder im Bus ist womög­lich bereits krank, ohne es zu wis­sen? War im Auf­zug grade jemand ohne Maske? Wo kann ich beden­ken­los hin gehen? Sollte ich nicht lie­ber sogar im Trep­pen­haus schon die Maske auf­set­zen?
Und es ist die dadurch ent­stan­dene Iso­la­tion, die mir zu schaf­fen macht. Eigent­lich wäre ich psy­chisch wie­der soweit, neue Men­schen ken­nen zu ler­nen. Ich könnte eine neue Gruppe beim Hil­fe­Dings aus­pro­bie­ren oder Kon­takte knüp­fen über nebenan.de, wo ich mich vor 5 Jah­ren mal genau dafür ange­mel­det habe. Aber Begeg­nun­gen mit Frem­den in die­ser Zeit? Bes­ser nicht. Lie­ber alleine zuhause blei­ben. Aber wie lange noch? 

Und es ist natür­lich die maß­lose Ent­täu­schung, dass unsere Regie­rung nicht in der Lage ist, sich auf einen ver­nünf­ti­gen Kon­ses zu eini­gen, für das Wohl ALLER Bürger*innen zu sor­gen und die eige­nen, per­sön­li­chen Belange wenigs­tens ein­mal außen vor zu las­sen. Und auch dar­über, dass sie sich von ver­hält­nis­mä­ßig weni­gen Idiot*innen am Nasen­ring durch die Pan­de­mie füh­ren las­sen, anstatt klare Ansa­gen zu machen und damit für Ord­nung zu sor­gen - so wie es einer Regie­rung nun­mal obliegt in sol­chen Zei­ten. Klar ist das bei uns eine Demo­kra­tie, in der im Prin­zip jede*r was sagen darf, aber es ist keine Anar­chie. Das schei­nen einige zu ver­ges­sen, auch in den “obe­ren Reihen”.

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Auf Twit­ter habe ich alle, denen ich folge, auf Lis­ten ver­teilt, damit ich je nach Stim­mung und Kraft ent­schei­den kann, wen und was ich lese. Da gibt es eine Liste mit Herz­men­schen, die ich eigent­lich immer lese, weil es fried­li­che, har­mo­ni­sche, freund­li­che Men­schen sind. Aber auch da wird der Ton in den letz­ten Wochen sehr viel rau­her, dras­ti­scher, wüten­der. Und obwohl ich das ver­stehe und bei mir selbst ja auch merke, fliege ich an vie­len Tagen auch dort nur noch über die Tweets, weil mir die Kraft dafür fehlt.

Immer öfter kommt bei mir (und ande­ren) die Frage auf, was die Pan­de­mie mit uns als Men­schen, als Gesell­schaft macht und wie sehr wir uns am Ende ver­än­dert haben wer­den. Ich glaube nicht mehr daran, dass es ein Zurück gibt, aber ich kann mir im Moment noch nicht vor­stel­len, wie das neue Danach aus­se­hen wird.

Zwei Tweets dazu.

Wie krie­gen wir das wie­der hin, freund­lich und respekt­voll mit­ein­an­der umzu­ge­hen, nicht nur im klei­nen pri­va­ten Bereich? Wie kom­men wir auf ein “nor­ma­les” Maß zurück, wenn es um Auf­re­gung und Empö­rung geht und auch um die Ich-Bezo­gen­heit, das “Ich hab aber Recht und wenn du das anders siehst, bist du für mich gestorben”?

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Max Bud­den­bohm über die der­zei­tige Stimmung.

Wir haben eine Phase der Pan­de­mie erreicht, in der fast alle Men­schen in die­ser Gesell­schaft durch etwas ver­är­gert oder ent­täuscht, viel­leicht sogar ver­bit­tert sind. Weil sie ein­zelne oder viele Maß­nah­men des Staa­tes unsin­nig oder falsch fin­den, weil sie das Ver­hal­ten ihrer Mit­men­schen abwe­gig oder irr­sin­nig fin­den, weil sie irgend­wel­che Regeln, Ein­schrän­kun­gen, Ver­bote oder För­de­run­gen gerne etwas anders hät­ten oder nicht mehr nach­voll­zie­hen kön­nen oder wol­len, was warum ent­schie­den wurde. Es scheint keine zufrie­de­nen Men­schen mehr zu geben, in kei­nem Lager, in kei­ner Grup­pie­rung. Dem mitt­ler­weile schier undurch­dring­li­chen Dickicht der viel­fäl­ti­gen Regeln und Vor­ga­ben steht ein ebenso wir­res Dickicht an Mei­nun­gen und Ver­mu­tun­gen gegen­über. Es ist eine ver­fah­rene Situa­tion. Im Bekann­ten­kreis regen sich alle über irgend­et­was auf, im Kol­le­gin­nen­kreis auch, in den sozia­len Medien sowieso, in den Nach­rich­ten, in den Talk­shows und im Radio - über­all wird geschimpft, gezwei­felt, gestrit­ten, und wem will man es ver­weh­ren, es gibt doch Gründe genug und auch Gründe für alle.

Max Bud­den­bohm: So gehört das, so muss das sein

Eli­sa­beth Rank auf Instagram:

Ever­yone I know is tired. Today I could brea­the for a second. Is that one of these adult things that just when the sun hits you leave ever­y­thing as it is and go out for a walk? Or is it a pan­de­mic thing? And you want to walk fast because sun­light and joyful sweat and light smi­les are rare these days, and it feels good to walk through crisp air with pace; and at the same time you want it to last long, you want it to last fore­ver and brea­the and smell and just stand there with your eyes clo­sed in that damn win­ter sun. I saw someone crying in the park, he crossed me, big guy, a little youn­ger than me. He loo­ked so frea­king tired that I felt like hug­ging him (I didn’t). Ever­yone I know is tired. / Ber­lin, Janu­ary 2022.

Eli­sa­beth Rank auf Instagram

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Ich bin so müde.
Auch des­halb, weil ich inzwi­schen seit 10 Jah­ren (bzw. eigent­lich sogar schon seit 18 Jah­ren oder noch mehr) gegen und mit der Depres­sion kämpfe, wor­über ich in der letz­ten Zeit auch viel nach­denke, aber das wird ein eige­ner Bei­trag an einem ande­ren Tag.

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