Einen für meine Verhältnisse frühen Termin zu haben, ist schwierig genug. Die Nacht davor aber nur vier Stunden zu schlafen, ist einfach mistig.
Drei Minuten vor dem Ende des Films, den ich gestern Nacht noch guckte, brach das Internet zusammen. Damit entfiel dann auch mein “Ich geh jetzt wirklich gleich ins Bett”-Ritual, bei dem ich noch einen Moment Musik höre und eines dieser kleinen Spielchen daddel, bei dem eins nicht nachdenken muss und schön müde wird.
Und so lag ich dann im Bett und konnte nicht einschlafen. Da gehen dann die Augen von alleine auf, alles kribbelt und juckt, der eigene Herzschlag dröhnt im Ohr und die gute Frau von der Meditationsapp nervt einfach nur. Das einzige, was dann funktioniert: aufstehen, anziehen, Lavendeltee kochen und mit dem und was zu lesen aufs Sofa. So lange, bis die Augen doch zufallen. Vor allem aber: nicht ungeduldig werden, nicht zwingen.
Heute also die fünftletzte Therapiestunde, nach 4 Wochen Pause wegen Urlaub. Das war ganz schön lang diesmal. Ich weiß jetzt schon, dass ich die Therapeutin und das alles verdammt vermissen werde, auch wenn ich diesmal recht zuversichtlich bin, dass ich mit den weiteren Aufgaben alleine klar kommen kann.
Vielleicht setz ich mich dann einfach einmal in der Woche für 50 Minuten auf einen Stuhl und erzähl mir selbst was. Ihre Antworten hab ich ja nach der langen Zeit so ziemlich im Kopf. Doch, das scheint mir eine gute Idee zu sein. Ihren Vorschlag, nachdem ich den Gedanken aussprach, ich könnte mich ja vor den Spiegel setzen, hab ich aber abgelehnt. Das muss ja nun nicht echt sein, dass ich mich so lange angucke.
Wir sprachen über meine Erinnerung, dass ich in meiner Kinder- und Jugendzeit immer hintenan stehen musste, weil die Schwestern immer wichtiger waren. Und über meine Wut, weil sie sich mit Krankheiten und anderen Befindlichkeiten Aufmerksamkeit geholt haben und ich das Gefühl hatte, das nicht zu dürfen bzw. dass ich mich nicht traute. Mein Dilemma war, dass man in der Familie am meisten Beachtung bekam, wenn man krank war oder was angestellt hatte. Ich war aber selten krank und Mist gebaut hab ich erst später. Der Satz meiner Mutter “Wie gut, dass du mir nicht auch noch Probleme machst”, tat sein Übriges, mich still zu (ver)halten. Und wenn ich dann wirklich mal was wollte, drängte sich jemand anders dazwischen und nahm mir die Aufmerksamkeit weg.
Das begleitet mich auch heute noch. Ich traue mich selten, in der Öffentlichkeit was zu sagen, denn ich gehe i.d.R. davon aus, dass die Meinung anderer richtiger und wichtiger ist - auch wenn ich innen mir drin weiß, dass ich recht habe mit dem, was ich denke. Ich kann es aber nicht nach außen vertreten. In Diskussionen bin ich unsicher, vergesse alle Argumente, kann mich nicht behaupten. Ich verzichte lieber, als mich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Und ich sage nicht, wenn ich etwas brauche, weil ich es ja sowieso nicht bekomme. Ich bin wütend, wenn mir jemand etwas nimmt, aber ich wehre mich nicht. Ich leide still, ich “belästige” andere nicht, wenn es mir nicht gut geht. Ich lebe lieber jahrelang mit Einschränkungen, als jemanden um Hilfe zu bitten. Weil mir das nicht zusteht.
Mir fällt “Karlsson vom Dach” dabei ein. Meine schlimmste Hassfigur aus der Kindheit. Einer, der sich mit einer Selbstverständlichkeit alles nimmt, was er will, einfach so. Der keine Rücksicht auf andere nimmt. Der anderen die Schuld an seinen Unarten gibt.
Ich war umgeben von solchen Karlssons. Ich war wütend darüber, aber ich konnte mich nicht wehren, konnte nicht einstehen für mich. Ein Gefühl der Ohnmacht, das noch wütender machte.
Wut war aber immer verboten, darum ließ sich dieses Gefühl auch nicht auflösen oder verändern, es gab keinen Ersatz dafür. Die Wut blieb in mir stecken und setzte sich als dicker Klumpen im Magen fest.
Das ist bis heute so. Wut darf nicht sein, denn sie ist schlecht. Und wenn ich wütend bin, bin auch ich als Ganzes schlecht. Erst ganz allmählich gestehe ich sie mir zu — und nur dadurch kann ich irgendwann damit hoffentlich umgehen.
Denn Wut bedeutet: da stimmt was nicht. Da läuft was schief, da ist eine Ungerechtigkeit, da drängelt sich jemand vor - nein, da lasse ich zu, dass sich jemand vordrängelt. Manchmal ist es auch “nur” die Erinnerung an eine frühere Verletzung; das ist das schwierigste im Moment, das dann zu erkennen und das Früher von dem Heute zu trennen. Aber ich merke: je besser ich den alten Stimmen aus der Vergangenheit etwas entgegen setzen kann, desto besser kann ich das auseinander halten und einsortieren. Weil ich mich heute ernst nehme. Weil ich mir zugestehe, eine Stimme zu haben. Weil niemand mehr über mich bestimmen kann.
Ich bin weit gekommen im vergangenen halben Jahr, aber verdammt, die letzten vier Therapiestunden könnten echt knapp werden.
Wie viel mir davon (persönlich) bekannt vorkommt, du Seelenschwester du. 😘😘😘