(Keine Erklärungen, einfach wieder mitten rein.)
Wenn ich heute nachlese, aus welchen Gründen ich letztes Jahr das erste Mal entschieden hatte, dass ich hier ausziehen muss, dann kann ich nur bitter lachen. Inzwischen hat sich der Lärm in und vor allem vor dem Haus so extrem vervielfacht, dass ich am Ende des Aushaltbaren angekommen bin. Ich kann nicht mehr. Kann es nicht mehr wegdrücken, habe keine zweite Schicht Haut mehr, jedes menschengemachte Geräusch trifft mich wie tausend Nadeln. Das einzige, was manchmal hilft, ist Musik - nur dass ich nicht permanent Musik hören kann, weil auch die irgendwann zuviel wird. (Ich liebe Bach, aber nach 2 Stunden ist auch mal gut.)
Mit der von oben beschlossenen Öffnung der Außengastronomie Mitte Mai ist die Situation hier eskaliert. An der Kreuzung nebenan versorgen jetzt 5 verschiedene gastronomische Betriebe ihre Gäste auf den Fußwegen: auf der einen Straßenseite der Kiosk mit dem seit letztem Jahr angeschlossenen Café - Treffpunkt für die einsamen, finanziell armen, allein gelassenen und zum großen Teil alkoholkranken Menschen aus der nahen Umgebung, das neu eröffnete Café direkt daneben, die uralte Raucher-Dart-Kneipe gegenüber, wo zwar die Besitzer gewechselt haben, aber nicht die Gäste (alte - im wahrsten Sinn - Eimsbüttler:innen, die bereits am Nachmittag einige Biere intus haben und mit fortschreitendem Pegel immer lauter werden, offensichtlich aber wenig Schlaf brauchen und darum bis tief in die Nacht da hocken), und auf der anderen Strassenseite die Burgerkneipe, die bisher immer erträglich war mit dem Lärm, seit diesem Jahr aber den Radius ihrer Außenplätze immer weiter vergrößern (ist ja Corona, muss ja Abstand!) und damit auch den Radius der Geräusche und zuletzt das frisch eröffnete Hipster-Restaurant, deren Besitzer erstmal jeden Lärmschutz draußen abgebaut haben, um noch mehr Platz für noch mehr Tische zu schaffen und übrigens gibt es jetzt am Wochenende schon ab 10 Uhr Frühstück, juhu. Und zu diesen fünf von der Kreuzung kommen dann noch die Gäste vom Asiaten gegenüber und vom Café rechts von uns.
Zwei Häuser neben dem Asiaten gibt es noch ein kleines, sehr gehobenes Restaurant mit ausgewählter Klientel, die seit Jahren im Sommer zwei bis drei Tische draußen stehen haben und die man komischerweise nie hört. Benehmen sich reiche Leute besser?
So sieht das aus (die Zahl im Kreis ist die Anzahl der Sitzplätze):
Über den Daumen gepeilt sitzen da an einem schönen Tag ab dem Nachmittag bis Mitternacht durchgängig bis zu 150 Menschen rum. Laute, rücksichtslose, sich permanent mitteilen müssende Menschen. Sie reden und reden und reden in einem nicht zu stoppenden Fluß. Sie versichern sich laut, wie herrlich das Wetter ist; sie bewundern die neuesten Errungenschaften - “endlich kann man wieder shoppen gehen!” - und vor allem sich selbst; sie lästern über die anderen, die genau das gleiche tun; sie gackern und wiehern und tröten und rufen und kreischen; sie hocken in großen Rudeln da draußen und merken nichts mehr in ihrer trügerischen “Corona ist vorbei”-Glückseligkeit. Sie schwärmen wie dumme Wespen umeinander rum und alles, was im Weg ist, wird angemotzt und angerempelt und nieder gemacht, weil WIR und ICH das einzige ist, was in ihren Köpfen ist. Und wenn die Läden zu haben in der Nacht, dann wird vor unseren Haustüren weiter gefeiert, gegrölt, gesoffen, in die Ecke gepisst, randaliert.
Ich gehe davon aus, dass das nicht vorbei ist, wenn wir Corona irgendwann mal wirklich überwunden haben. Die Restaurants bleiben, die Leute bleiben, der Lärm wird bleiben - nur ich muss hier weg.
Denn obwohl sie von meinem Kampf nichtmal etwas wissen, haben diese Menschen gewonnen: ich räume das Feld. Ich will mich hier im Sommer nicht einsperren, ich brauche frische Luft, ich will wenigstens auf meinem Balkon sein dürfen. Wenn das nicht geht, hab ich 80% weniger Lebensqualität. Damit kann ich nicht leben.
Aber jetzt sitze ich hier und habe Angst. Wie soll ich das schaffen, wenn mich schon das kleinste bißchen überfordert? Ich kann das alles nicht, was für die Wohnungssuche und für einen Umzug nötig ist. Und da ist niemand, dem ich sagen kann “mach du”. Ja, Frau R. hilft, wo sie kann, aber machen muss am Ende ich selbst. Und ich fühle mich hilflos, kraftlos, unfähig, verzweifelt. Ich hocke in meiner verschlossenen Wohnung wie ein Hase auf der Landstrasse, den die Scheinwerfer des Autos blenden, das ihn gleich überfahren wird.
Ich kann das nicht. Ich glaube nicht an mich.