27-06-2021 Ich muss doch hier weg

(Keine Erklä­run­gen, ein­fach wie­der mit­ten rein.)


Wenn ich heute nach­lese, aus wel­chen Grün­den ich letz­tes Jahr das erste Mal ent­schie­den hatte, dass ich hier aus­zie­hen muss, dann kann ich nur bit­ter lachen. Inzwi­schen hat sich der Lärm in und vor allem vor dem Haus so extrem ver­viel­facht, dass ich am Ende des Aus­halt­ba­ren ange­kom­men bin. Ich kann nicht mehr. Kann es nicht mehr weg­drü­cken, habe keine zweite Schicht Haut mehr, jedes men­schen­ge­machte Geräusch trifft mich wie tau­send Nadeln. Das ein­zige, was manch­mal hilft, ist Musik - nur dass ich nicht per­ma­nent Musik hören kann, weil auch die irgend­wann zuviel wird. (Ich liebe Bach, aber nach 2 Stun­den ist auch mal gut.)

Mit der von oben beschlos­se­nen Öff­nung der Außen­gas­tro­no­mie Mitte Mai ist die Situa­tion hier eska­liert. An der Kreu­zung nebenan ver­sor­gen jetzt 5 ver­schie­dene gas­tro­no­mi­sche Betriebe ihre Gäste auf den Fuß­we­gen: auf der einen Stra­ßen­seite der Kiosk mit dem seit letz­tem Jahr ange­schlos­se­nen Café - Treff­punkt für die ein­sa­men, finan­zi­ell armen, allein gelas­se­nen und zum gro­ßen Teil alko­hol­kran­ken Men­schen aus der nahen Umge­bung, das neu eröff­nete Café direkt dane­ben, die uralte Rau­cher-Dart-Kneipe gegen­über, wo zwar die Besit­zer gewech­selt haben, aber nicht die Gäste (alte - im wahrs­ten Sinn - Eimsbüttler:innen, die bereits am Nach­mit­tag einige Biere intus haben und mit fort­schrei­ten­dem Pegel immer lau­ter wer­den, offen­sicht­lich aber wenig Schlaf brau­chen und darum bis tief in die Nacht da hocken), und auf der ande­ren Stras­sen­seite die Bur­ger­kneipe, die bis­her immer erträg­lich war mit dem Lärm, seit die­sem Jahr aber den Radius ihrer Außen­plätze immer wei­ter ver­grö­ßern (ist ja Corona, muss ja Abstand!) und damit auch den Radius der Geräu­sche und zuletzt das frisch eröff­nete Hips­ter-Restau­rant, deren Besit­zer erst­mal jeden Lärm­schutz drau­ßen abge­baut haben, um noch mehr Platz für noch mehr Tische zu schaf­fen und übri­gens gibt es jetzt am Wochen­ende schon ab 10 Uhr Früh­stück, juhu. Und zu die­sen fünf von der Kreu­zung kom­men dann noch die Gäste vom Asia­ten gegen­über und vom Café rechts von uns. 

Zwei Häu­ser neben dem Asia­ten gibt es noch ein klei­nes, sehr geho­be­nes Restau­rant mit aus­ge­wähl­ter Kli­en­tel, die seit Jah­ren im Som­mer zwei bis drei Tische drau­ßen ste­hen haben und die man komi­scher­weise nie hört. Beneh­men sich rei­che Leute besser?

So sieht das aus (die Zahl im Kreis ist die Anzahl der Sitz­plätze):

Über den Dau­men gepeilt sit­zen da an einem schö­nen Tag ab dem Nach­mit­tag bis Mit­ter­nacht durch­gän­gig bis zu 150 Men­schen rum. Laute, rück­sichts­lose, sich per­ma­nent mit­tei­len müs­sende Men­schen. Sie reden und reden und reden in einem nicht zu stop­pen­den Fluß. Sie ver­si­chern sich laut, wie herr­lich das Wet­ter ist; sie bewun­dern die neu­es­ten Errun­gen­schaf­ten - “end­lich kann man wie­der shop­pen gehen!” - und vor allem sich selbst; sie läs­tern über die ande­ren, die genau das glei­che tun; sie gackern und wie­hern und trö­ten und rufen und krei­schen; sie hocken in gro­ßen Rudeln da drau­ßen und mer­ken nichts mehr in ihrer trü­ge­ri­schen “Corona ist vorbei”-Glückseligkeit. Sie schwär­men wie dumme Wes­pen umein­an­der rum und alles, was im Weg ist, wird ange­motzt und ange­rem­pelt und nie­der gemacht, weil WIR und ICH das ein­zige ist, was in ihren Köp­fen ist. Und wenn die Läden zu haben in der Nacht, dann wird vor unse­ren Haus­tü­ren wei­ter gefei­ert, gegrölt, gesof­fen, in die Ecke gepisst, ran­da­liert.
Ich gehe davon aus, dass das nicht vor­bei ist, wenn wir Corona irgend­wann mal wirk­lich über­wun­den haben. Die Restau­rants blei­ben, die Leute blei­ben, der Lärm wird blei­ben - nur ich muss hier weg.

Denn obwohl sie von mei­nem Kampf nicht­mal etwas wis­sen, haben diese Men­schen gewon­nen: ich räume das Feld. Ich will mich hier im Som­mer nicht ein­sper­ren, ich brau­che fri­sche Luft, ich will wenigs­tens auf mei­nem Bal­kon sein dür­fen. Wenn das nicht geht, hab ich 80% weni­ger Lebens­qua­li­tät. Damit kann ich nicht leben.

Aber jetzt sitze ich hier und habe Angst. Wie soll ich das schaf­fen, wenn mich schon das kleinste biß­chen über­for­dert? Ich kann das alles nicht, was für die Woh­nungs­su­che und für einen Umzug nötig ist. Und da ist nie­mand, dem ich sagen kann “mach du”. Ja, Frau R. hilft, wo sie kann, aber machen muss am Ende ich selbst. Und ich fühle mich hilf­los, kraft­los, unfä­hig, ver­zwei­felt. Ich hocke in mei­ner ver­schlos­se­nen Woh­nung wie ein Hase auf der Land­strasse, den die Schein­wer­fer des Autos blen­den, das ihn gleich über­fah­ren wird.
Ich kann das nicht. Ich glaube nicht an mich.