29-06-2022 Essen: Nahrung und Trost

Lau­rie, die fünf­und­drei­ßig­jäh­rige Che­fin einer Bos­to­ner Hypo­the­ken­firma, hebt die Hand. »Ich hab kei­nen Hun­ger, aber ich hätte gern wel­chen. Ich will auf jeden Fall essen.«
»Warum?«, frage ich.
»Weil das Essen gut aus­sieht, und weil es hier direkt vor mir steht. Es ist der beste See­len­trös­ter, den es gibt. Was ist falsch daran, wenn man sich vom Essen wünscht, dass es einen trös­tet?«
»Über­haupt nichts«, erwi­dere ich. »Essen ist gut, und Trost ist gut. Aber wenn du kei­nen Hun­ger hast und Bal­sam für die Seele brauchst, lin­dert Essen den Schmerz nur vor­über­ge­hend. Warum gehst du das Unbe­ha­gen nicht direkt an?«
»Es ist zu schwie­rig, die Dinge direkt anzu­ge­hen, es tut zu weh, und der Schmerz wird nie ganz ver­schwin­den. Und wenn es sowieso end­los weh­tun wird, habe ich wenigs­tens das Essen«, erwi­dert sie.
»Du meinst also, das Beste, was du vom Leben bekom­men kannst, ist kalte Gemü­se­suppe?«
Als sie wei­ter­spricht, bebt ihre Stimme. »Es ist der ein­zig wirk­li­che Trost, den ich habe, und ich werde nicht auf ihn ver­zich­ten.«
Eine Träne läuft über ihre rechte Wange, bleibt an ihrer Ober­lippe hän­gen. Zustim­men­des Kopf­ni­cken. Eine Woge von Gemur­mel läuft durch den Kreis.

aus Geneen Roth: Essen ist nicht das Problem

Ich hab die­ses Buch schon seit ein paar Jah­ren lie­gen, bin aber nie wirk­lich über das Vor­wort - aus dem der oben zitierte Abschnitt stammt - hin­aus gekom­men. Zu groß ist die Angst, mich mit dem Thema Essen zu beschäf­ti­gen, denn es hat mit Liebe und Ver­lust, Ver­nach­läs­si­gung und dem gro­ßen Gefühl des Unge­liebt-Seins zu tun.
Den­noch sind zwei Sätze aus dem Zitat ganz fest in mei­nem Kopf hän­gen geblie­ben und jedes Mal, wenn ich an sie denke oder sie lese, hab ich die­sen Kloß im Hals. Weil sie so ver­dammt zutref­fen. Weil sie haar­ge­nau beschrei­ben, wie es mir ging damals. Damals: als ich anfing, mich mit Essen zu trösten.

“Wenn es sowieso end­los weh­tun wird, habe ich wenigs­tens das Essen. […] Es ist der ein­zig wirk­li­che Trost, den ich habe.”

Ich will das alles so gerne auf­ar­bei­ten und irgend­wann über­win­den und hin­ter mir las­sen. Mor­gen ist die monat­li­che The­ra­pie­stunde und ich werde anfan­gen, dar­über zu reden. Und viel­leicht kann ich dann auch hier dar­über schreiben.

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