Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, jeden Tag zu bloggen von all dem, was hier in der Klinik so passiert, aber inzwischen ist mein Plan so gut gefüllt, dass ich entweder keine Zeit hab oder abends einfach nur müde bin.
Zu dem Programm, von dem ich im vorletzten Beitrag schrieb, sind noch zwei Einheiten Ergometertraining in der Gruppe (morgens um 7 Uhr! VOR dem Frühstück!!) und zweimal pro Woche DBT (Dialektisch-Behaviorale Therapie) dazu gekommen. Dafür gibt es leider kein weiteres Einzelgespräch mit der Ernährungstherapeutin.
Mittwoch und Freitag sind relativ entspannt, weil da bis auf DBT keine Therapiesachen sind. Montag, Dienstag und Donnerstag drängt es sich dafür, da wird die Psyche ordentlich angeregt - oder strapaziert? “Gefordert” trifft es ganz gut.
Außerhalb vom Wasser finde ich Sport immer noch doof, aber das ist was ganz anderes, als wenn wir über uns selbst, über Vergangenes und Schmerzhaftes aus unserem Leben reden und nachdenken. Aber das ganze Adipositaskonzept, in das ich jetzt eingebunden bin, ist sehr gut durchdacht und aufeinander abgestimmt. Die Mischung aus therapeutischen und sportlichen Terminen passt, es gibt Erholungsphasen und Zeit zum nachdenken oder ganz anderes zu tun.
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Sehr gut finde ich die DBT. Manches davon kenne ich aus anderen Kliniken schon, aber in einer neuen Gruppe entstehen ja immer neue Dinge. (Ich werde noch ausführlich darüber schreiben.)
Spannend war, dass der Psychologe, der das leitet, mich am Ende fragte, was ich beruflich mache. Auf meine Antwort, dass ich Musikpädagogin war, sagte er nur “Ja.” Auf Rückfrage meinte er, ich sei analytisch, genau und auf den Punkt, darum passte das in seine Vorstellung. Ich gestehe: es hat mir gut getan und mich gefreut. Und ich bin gespannt, wie es weiter geht.
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Und dann war da letzten Donnerstag noch das Einzelgespräch mit der Ernährungstherapeutin, bei dem das erste Mal auch Tränen liefen.
Sie fragte nach der Familie, wie ich aufwuchs, wie ich mich fühlte. Nach wichtigen Ereignissen, Lebensumständen, Veränderungen, was das mit mir machte, wie es mir ging an den einzelnen Stationen. Immer wieder dabei die Frage nach dem Essen, ob es schwierige Phasen gab und warum, wann ich anfing zuzunehmen und was da in meinem Leben passiert war.
Sie fühlte mit, fragte nach, gab mir Zeit (und Taschentücher und einen Knetball) und am Ende eine feste Umarmung.
Fazit des Gesprächs: mein Problem liegt wie vermutet in der Kindheit und es manifestiert sich immer und fast ausschließlich in der warmen Mahlzeit. Frühstück und Abendessen waren früher (zumindest in meiner Erinnerung, aber um die geht es ja) unproblematisch und sind es auch heute noch. Ich bekomme bei diesen Mahlzeiten ausreichend Nahrung, ich denke wenig darüber nach, mein Gefühl ist positiv und ich merke gut, wenn ich satt bin.
Die Mittagsmahlzeit jedoch, also das, was ich täglich koche und was täglich variiert, triggert immer wieder, oft auch unbewußt. Immer noch habe ich Angst, dass es nicht genug gibt und dass ich hungern muss. Immer noch koche und esse ich zu viel aus Angst, dass nichts für mich übrig bleibt und dass es danach nichts mehr gibt. Und immer noch ist da ganz tief innen die Anspannung präsent, ob der Vater heute gut oder schlecht gelaunt ist, ob man was sagen darf oder gleich eine Ohrfeige bekommt, ob man aufessen darf (auch wenn es oft nicht schmeckte) oder vorher ins Bett geschickt wird, ob man aufessen muss und dazu stundenlang alleine in der Küche sitzt und/ oder den Rest am Abend kalt wieder vor sich stehen hat.
Die warme Mahlzeit bestand aus Angst und diese Angst liegt mir immer noch im Magen. Aber ich brauche sie heute nicht mehr. Ich bestimme selbst, was es zu essen gibt. Ich darf spüren, dass ich satt bin und dann aufhören zu essen, weil das Essen nicht verschwindet dadurch. Ich muss keine Reste aufessen, wenn ich nicht mehr mag. Niemand tut mir Gewalt an, aus welchem Grund auch immer und schon gar nicht beim oder wegen dem Essen. Ich kann mir Zeit lassen und bewußt genießen, weil mir schmeckt, was ich koche. Ich muss keinen Quark mehr essen, nie wieder. Und keinen Broccoli, nur weil er gesund ist. Ich darf Hunger haben, weil mein Körper mir dadurch sagt, dass und was er braucht. Ich darf Appetit haben und mit Appetit essen, bis ich satt bin. Ich muss mich nicht voll stopfen, es gibt wieder Nahrung, wenn mein Körper sie braucht und den Bedarf meldet. Und Nachtisch ist erlaubt, genauso wie Erdnussflips, solange ich Maß halte.
Übrigens: Essen ist eine Tätigkeit und verdient die gleiche Aufmerksamkeit wie alles andere, das ich den Tag über mache.
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Bei der ersten Visite nach einer Woche fragte der Oberarzt, wie es mir ginge. “Gut”, sagte ich, “richtig gut”. Daraufhin er: “Das kann eigentlich nicht sein, sonst wären Sie ja nicht hier.”
Doch, es geht mir wirklich gut. Alleine schon, dass ich mich um fast nichts kümmern muss, ist eine Wohltat. Dass ich nicht planen, einkaufen und kochen muss und dann noch überlegen, ob das alles auch vernünftig ist. Ich kann alles essen, was angeboten wird, weil eben alles ausgewogen ist und mir gibt, was ich brauche. Nichts von dem, was wir bekommen, ist ungesund. Auch der tägliche Nachtisch und der Sonntagskuchen sind eingerchnet und dürfen mit gutem Gefühl gegessen werden.
Ich genieße auch, dass ich mich nicht ständig “richtig” anziehen muss - Leggins und T-Shirt sind völlig normal. Außerdem sind die Wege kurz: zum MTT gehe ich in Sportkleidung und zum Schwimmen in Badeanzug, Bademantel und Flip-Flops, weil ich danach sowieso in meinem Badezimmer dusche. Ich laufe aber im Vergleich zu sonst relativ viel, denn mein Zimmer ist weit im linken Flügel des Gebäudes, ca. 250 Schritte vom Speisesaal entfernt. Nur für die Termine im 4. oder im 5. Stock nehme ich den Aufzug, ansonsten gehe ich zu Fuß die Treppe runter und rauf. Meinem Knie tut es gut und erstaunlicherweise meckert der rechte Fuß überhaupt nicht. Und nächste Woche darf ich wieder auf die Waage und bin mega gespannt. Es fühlt sich nach knapp 2 kg an, die ich verloren habe, eben auch durch die vielen Wege durch’s Haus.
Noch viel wichtiger ist aber, dass ich viel über mich lerne, nicht nur in Bezug auf Essen, und dass ich bei allem so sehr bei mir bin wie lange nicht mehr. Hier entstehen durch die vielen neuen Impulse so viele neue Gedanken und Erkenntnisse, mit denen ich weiter arbeiten kann und die mich voran bringen. Eine dieser Erkenntnisse ist:
Ich will nicht mehr leiden. Ich will wieder gut leben.
Hach. Ich freue mich, das so zu lesen.
😊 😘 🤗